die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

In eigener Sache

Es erscheint sinnvoll, wenigstens kurz zu erklären, wie es zu dieser Website kam und was mich veranlaßt hat, eine Auswahl meiner Texte in dieser Form allgemein zugänglich zu machen.

Die große Mehrzahl der Texte wurden für den Rundfunk geschrieben, davon wiederum die meisten als kritische Kommentare zum Theater, der ‘flüchtigsten aller Kunstformen’. Das vor dem Mikrophon aufgezeichnete, auf die aktuellen Kulturprogramme der deutschsprachigen Sendeanstalten verteilte und von ihnen ausgestrahlte Wort konnte gleichzeitig Zehntausende von Hörern erreichen. Dennoch blieb das Gefühl, daß die Stimme des Autors, der seine Beiträge selber sprach, sich ohne besonderen Nachhall im Äther verlor.

Ich hatte mich nach einer Ausbildung für das Theater und einigen Jahren im Engagement als Dramaturg und Regisseur an deutschen Bühnen nach London abgesetzt, die Stadt, die damals als Theatermetropole Europas galt, um ein Studienprojekt abzuschließen und das englische Theater genauer kennenzulernen; ein Vorhaben, dessen Schwierigkeiten ich unterschätzte, zumal mir von britischer Seite zunächst nur Steine in den Weg gelegt wurden. Ich sah mich genötigt, einen Broterwerb zu suchen, fand Anschluß beim Deutschen Dienst der BBC und begann, die ersten Theaterberichte zu schreiben, die schon bald von deutschen Rundfunkanstalten übernommen wurden.

Als einer, der sich früh mit Haut und Haaren dem Theater verschrieben hatte und sich zur Regie berufen fühlte, fiel es mir anfangs nicht leicht, mich mit der Rolle eines Berichterstatters abzufinden, der sich viel lieber bei den Schauspielern auf der Bühne eingemischt hätte, statt die Arbeit anderer zu kommentieren. Weil ich in der englischen Sprache nicht zuhause war, bildete ich mir ein, daß ich als Regisseur in London kaum eine Chance hätte (eine Einschätzung, die ich später oft genug bedauerte). Es brauchte Jahre, bis ich begriff, daß ich angewiesen war auf diesen zweiten Beruf und ihn nicht nur als Übergangslösung betrachten sollte, von der ich bald wieder zurückkehren würde zur Regie, den Bereich, in dem ich meine eigentlichen Stärken sah. Mehr und mehr fand ich Vergnügen daran, mich mit den Arbeiten anderer auseinanderzusetzen und das kritische Handwerk keineswegs nur als sekundär kreative Tätigkeit zu verstehen. Kritik war beileibe nicht nur Nachvollzug kreativer Prozesse. Um sinnvoll Kritik betreiben zu können, brauchte es Sachverstand, ein extrem entwickeltes Maß an selbstkritischem Vermögen, Begeisterungsfähigkeit und Begabung zum Engagement. Man mußte in der Lage sein, dem Bühnenbetrieb hinter die Kulissen zu schauen und Theater als eine Kunstform zu verstehen, die in besonderem Maße in Gesellschaft verwickelt ist. Gesellschaftspolitische Themen scheinen im Folgenden eine gewisse Vorrangstellung eingenommen zu haben.

Ein deutschsprachiges Hörerpublikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz sollte über die kulturellen Aktivitäten in Großbritannien informiert werden. Ich selbst entschied über die Auswahl der den Rundfunkanstalten vorgeschlagenen Themen. Da die Sendebereiche der verschiedenen Anstalten sich in der Regel nicht überschnitten, konnte das Material entsprechend verteilt werden. Im übrigen konnte man einzelne Passagen oder Formulierungen der vom Autor gesprochenen und aus Studios der BBC übermittelten Berichte gleichlautend verwenden.

Die Redakteure der aktuellen Kulturprogramme, für die ich die meisten dieser Texte in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb, schätzten schon damals die Aufmerksamkeitsspanne ihrer Hörer so gering ein, daß die Autoren bei ihren Beiträgen um jede Sendeminute kämpfen mußten. Es hieß, der moderne Hörer sei reinen Textbeiträgen von über drei bis vier Minuten Länge, ungeachtet ihrer Qualität oder der Art, wie sie gesprochen wurden, nicht mehr gewachsen (daß man bei Hörern von Radiosendungen des englischen Sprachbereichs ganz andere Erfahrungen gemacht hatte, weil aus Zuschriften hervorging, daß man sich ausdrücklich längere Hörtexte wünschte, schien in deutschen Landen nicht zu gelten).

Ein zweites Problem ergab sich aus der Neigung der Redakteure, an die übermittelten oder übersandten Texte Hand anzulegen, wenn ihnen einzelne Aussagen nicht paßten; was in vielen Fällen auf eine Form von (politischer) Zensur hinauslief, die ich mir trotz der damit verbundenen Risiken strikt verbat. Immer wieder versuchte ich zu erklären, daß man für einen gut fundierten kritischen Bericht über die Ur- oder Erstaufführung eines neuen Stückes von im Ausland oft unbekannten Autoren wenigstens fünf bis sechs Minuten Sendezeit brauche. Ich bat die Redakteure, einen Beitrag lieber gar nicht zu senden, statt nach eigenem Belieben die Texte zu verändern. Wenn man sich nicht an diese Absprache hielt, zog ich es vor, auf die weitere Zusammenarbeit mit der entsprechenden Redaktion zu verzichten; ein etwas heikles Unterfangen, weil man als ‘freier Autor’ ohne festen Mitarbeitervertrag natürlich auf längerfristige Verbindungen angewiesen war (über die Jahre verlor ich auf solche Weise mindestens sechs oder sieben meiner Kontakte).

Um den Redakteuren der Hörfunksendungen Eingriffe so schwer wie möglich zu machen, waren die Texte mitunter absichtlich so vertrackt geschrieben, daß ich mir dank meiner Schauspielausbildung gerade noch zutrauen konnte, sie vor dem Mikrofon so lebendig und spannend rüberzubringen, daß man das Interesse der Hörer nicht verlor, die Redakteure der Rundfunksender aber, denen die Beiträge meist am frühen Nachmittag überspielt wurden, in der relativ kurzen Zeit, die ihnen bis zum Beginn der eigenen Sendung blieb, höchstens die Möglichkeit hatten, die übermittelten Texte am Anfang oder Ende zu kürzen.

Weil ich als freier Mitarbeiter bei den geringen Honoraren mir Fahrten zu wichtigen Ereignissen außerhalb Londons nicht leisten konnte, konzentrierte ich mich auf die britische Hauptstadt, wo ich allerdings damals schon fast jede Woche ein oder zwei Ur- oder Erstaufführungen hätte vermelden können. Bei der Auswahl der Berichte bevorzugte ich Themen, die für ein deutschsprachiges Publikum von besonderem Interesse sein mußten oder schrieb über neue Stücke der auch im deutschsprachigen Ausland bekannten Autoren sowie über experimentelle Projekte und die wichtigsten Neuinzenierungen klassischer Werke. Von 1980 bis 1999 nahm ich regelmäßig für zwei Wochen am Edinburgh International Festival in Schottland teil, um von dort über die schauspieltheatralischen Höhepunkte des offiziellen Programms und des riesigen, immer mehr ausufernden Rahmenprogramms der Festspiele zu berichten.

Über die Jahre hatten sich viele hunderte von Texten in dicken Ordnern angesammelt, von denen die meisten nur im Rundfunk zu hören und höchstens in einer deutschen Regionalzeitung nachgedruckt worden waren. Beim gelegentlichen Nachlesen hatte ich immer wieder das Gefühl, ihnen gewissermaßen Unrecht zu tun, wenn man all denen, die an den in Großbritannien theaterhistorisch besonders fruchtbaren siebziger, achtziger und neunziger Jahren noch interessiert sein mochten, nicht wenigstens eine Auswahl der Texte in einer Website zur Verfügung stelle.

Liest man heute die in den letzten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts geschriebenen Berichte noch einmal selbstkritisch nach, erkennt man, daß die Texte etwas miteinander verbindet, sich gleichsam ein roter Faden durch sie hindurch zieht, der das persönliche Engagement des Autors verrät, sein soziales Gewissen. Im übrigen finden sich so viele Hinweise auf Besorgnis erregende nationale Entwicklungen, daß das durch die jüngsten Ereignisse um den ‘Brexit’ entstandene Chaos nur als letzter Akt einer schon sehr viel länger schwärenden Krise erscheint, aus heutiger Sicht manche der damals gemachten Aussagen etwas geradezu Prophetisches haben und damit ganz nebenbei auch eine natürliche Erklärung dafür liefern, daß es einen Mann, den es vor langer Zeit ins Ausland verschlug, trotz der dort gewonnenen unschätzbar wertvollen Erfahrungen an dem Ort, in dem er länger als irgendwo sonst gelebt und gearbeitet hatte, nicht länger halten konnte und ihn mit unwiderstehlicher Macht wieder in das Land seiner Herkunft zurück zog; wobei ihm als Glücksfall erscheint, daß er sich gerade noch rechtzeitig ohne größere Verluste davonmachen konnte.

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