die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 179
Autor David MacLennan/David Anderson
Oper
Titel Any Minute Now
Ensemble/Spielort Wildcat Theatre, Edinburgh/Theatre Royal Stratford East/London
Inszenierung/Regie David MacLennan/David Anderson
Sendeinfo 1983.02.02/SWF Kultur akyuell/RB/WDR/ORF Wien/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Die schottische Musiktheatertruppe Wildcat gastiert mit der Rock-Oper ‘Any Minute Now’ von David MacLennan und David Anderson zurzeit in Joan Littlewoods Theatre Royal in Stratford East, einem der trostlosen Arbeiterviertels Londons. 1978 als Ableger der bekannten Theatergruppe 7:84 Schottland gegründet (die Verhältniszahlen bedeuten: 7% der Bevölkerung besitzen 84% der Güter des Landes), fährt Wildcat einen klaren, politisch aufklärerischen Kurs. Musik spielt bei ihren Inszenierungen eine zentrale Rolle.

‘Any Minute Now’ ist ein Stück Agitprop-Theater: es agitiert für politische Vernunft, propagiert die Sache des Friedens. Eine junge Mutter hat ihr Kind getötet. Die Szene ist Tribunal, und wir, das Publikum, sollen als die Geschworenen ein Urteil sprechen. Die Mordanklage richtet sich gegen eine Einzelperson, doch eine Prüfung der Umstände führt zu dem Schluß, daß die Täterin selbst Opfer ist. Das Fernsehen, “Fenster zur Welt“, hat durch die Schreckensbilder von Hiroschima eine Vorstellung davon vermittelt, was ein neuer Weltkrieg, in welchen den Gegnern das Vernichtungspotential von ein-ein-viertel Millionen Hiroshima-Bomben zur Verfügung steht, für uns bedeuten würde.

Auf dem Rundhorizont der Bühne erscheinen die Riesenfotos von Gewaltakten aller Art, Bilder, die uns tagtäglich frei Haus geliefert werden, von verwüsteten Städten, verbrannten Menschen, von bekannten Politikern und ihren Wunderwaffen, von Demonstrationen gegen den Rüstungswahnsinn und Demonstrationen der staatlichen Gewalt. Mary McKinley sieht sich umstellt und liest die Signale der Aggression als Zeichen einer unausweichlichen, alles vernichtenden Katastrophe. Sie tötet ihr Kind. Angesichts der ungeheuren Bedrohung, die jeden Augenblick (any minute now) für uns alle Wirklichkeit werden kann, erscheint Marys Untat fast wie ein Gnadenakt.

‘Any Minute Now’ ist eine Folge von Liedern und Befragungen vor Gericht, die uns, die Jury, mit den Hintergründen und eigentlichen Ursachen des Verbrechens der Mary McKinley vertraut machen sollen. Wildcat reist durch die Lande und tritt in Dorfgemeinschaftshäusern und Turnhallen auf, in Fabriken und Arbeiterclubs, in Wirtshäusern, in Schulen und gelegentlich auch in regulären Theatergebäuden. Die Gruppe will aufklären und unterhalten. Das Publikum soll verstehen, daß es zwischen Rüstungswahnsinn und Hungersnöten, Inflation, Arbeitslosigkeit und der Aushöhlung unserer demokratischen Grundrechte eine direkte Verbindung gibt.

“Wir kämpfen in einer Widerstandsbewegung“, heißt es am Ende des mit vielen Zahlen und dokumentierenden Fakten angefüllten Programmheftes, “und dieser Kampf gegen die elitäre politische Mentalität und ihr Zerstörungspotential kann nur von unten gewonnen werden. Es ist auch ein Kampf gegen Apathie und Falschinformation. Doch vor allem ist es ein Kampf ums Überleben“.

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