die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1994
Text # 282
Autor Bertolt Brecht/Goran Stefanovski
Theater
Titel Brecht in Exile
Ensemble/Spielort Moving Theatre/Bridge Lane Theatre/London
Inszenierung/Regie Vanessa Redgrave/Rade Serbedzija/Corin Redgrave
Hauptdarsteller Vanessa Redgrave/Rade Serbedzija/Ekkehard Schall
Neuinszenierung
Sendeinfo 1994.04.09/SWF Kultur aktuell/DR Berlin/BR/WDR/NDR Nachdruck: Darmstädter Echo

“Entscheidend ist, daß unsere Arbeit Bezug nimmt auf das, was uns umgibt“, erklärt Vanessa Redgrave auf die Frage, was sie, als international berühmter, im In- und Ausland umworbener Schauspielerstar veranlaßt habe, verlockende Westendtheaterangebote auszuschlagen und sich stattdessen auf ein Abenteuer einzulassen: die Gründung einer neuen Theatertruppe, mit allen finanziellen und künstlerischen Risiken eines auf private Sponsoren angewiesenen Projektes, das den Versuch wagt, Künstler aus verschiedenen Ländern zusammenzubringen und mit ihnen Aufführungen zu erarbeiten, die sich – kaum wagt man’s noch zu sagen – mit den großen Problemen der Gegenwart auseinandersetzen.

Der Name der Truppe ‘Moving Theatre’ unter der Leitung von Vanessa Redgrave und ihrem Bruder Corin Redgrave scheint weniger darauf anspielen zu wollen, daß man mit ihren Inszenierungen auf Reisen zu gehen gedenkt, als daß man in einer Zeit der politischen Verkrustung und künstlerischen Stagnation für geistige Bewegung sorgen möchte. Nach der Dramatisierung des Romans ‘Die Flagge’ von Alex Ferguson über das an heutige Verhältnisse in Großbritannien erinnernde soziale Elend der Zwanzigerjahre hat die Truppe inzwischen ihre zweite Inszenierung herausgebracht. Es ist das erstaunliche Resultat einer Zusammenarbeit zwischen Theaterleuten aus dem ehemaligen Jugoslawien und Künstlern aus England und Deutschland, die sich mit dem Schicksal der Flüchtlinge solidarisieren.

Die Idee zu dem Vorhaben wurde geboren, als Vanessa Redgrave, den Regisseur und Autor Rade Serbedzija und dessen Frau Lenka Udovicki, eine junge Regisseurin, kennenlernte und beschloß, mit ihnen ein Theaterprojekt zum Thema Künstler im Exil zu verwirklichen. Rade Serbedzija, einer der bekanntesten Bühnen- und Filmdarsteller in Jugoslawien, hatte sich vor dem Ausbruch des Krieges leidenschaftlich für Frieden und Verständigung zwischen Moslems, Kroaten und Serben eingesetzt und auch am 6. April 1992 bei einer Großkundgebung auf dem Platz der Republik in Sarajevo seine Lieder gesungen, als Karadzics Leute anfingen, den Platz zu beschießen, und der Bürgerkrieg begann. Bald darauf sah sich Serbedzija gezwungen, mit seiner Familie ins Ausland zu fliehen.

Vanessa Redgrave und Rade Serbedzija baten den inzwischen ebenfalls nach England entkommenden jugoslawischen Autor Goran Stefanovski, ein Bühnenmanuskript mit dem Arbeitstitel ‘Brecht in Hollywood’ vorzubereiten. Schließlich wurde der durch die Gastspiele des Berliner Ensembles in England berühmt gewordene Ekkehard Schall eingeladen, als dritter Schauspieler im Bunde mitzuwirken.

Was jetzt unter dem Titel ‘Brecht im Exil’ vorgestellt wird, ist im Wesentlichen eine Folge von Texten, die Brecht in den Jahre 1933 bis 1947 schrieb, ergänzt durch einige frühere Gedichte und Lieder, die retrospektiv einen für die Situation des Künstlers im Exil bedeutsamen, manchmal auf frivole Weise prophetischen Doppelsinn offenbaren.

Das Gedicht ‘An die Nachgeborenen’, womit Vanessa Redgrave den Abend beginnt, ist wohl noch nie so schön und überzeugend gesprochen worden. Schrille Zirkusmusik und eine Art Marktschreier mit Flüstertüte kündigen den Auftritt des großen Gangsters Arturo Ui an. Die unheimliche Warnung des Vierzeilers “Das da hätt einmal fast die Welt regiert”, der mit den Worten endet “Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch”, wird uns in drei Sprachen – deutsch, englisch und serbokroatisch – zugesprochen. Der Abschied der jüdischen Frau aus ‘Furcht und Elend des Dritten Reiches’ zeigt das ganze Ausmaß der bis in die intimsten menschlichen Beziehungen reichenden seelischen Grausamkeit.

“Gott bewahr uns und führ uns wieder nach Haus”, heißt es in der letzten Zeile des gesungenen ‘Deutschen Miserere’ aus ‘Schweik im zweiten Weltkrieg’. Danach gibt Rade Serbedzjia eine schaurig-groteske Darstellung des exhumierten Gefallenen in der von ihm selbst vertonten ‘Legende vom toten Soldaten’. Schon hier, wie in der Szene aus den ‘Flüchtlingsgesprächen’, vor allem aber in den zur Gitarre gesungenen oder mit trockenem Witz gesprochenen Texten des zweiten Teils – “Ganz gewiß, ich bin wahnsinnig, es dauert nicht mehr lang bei mir”; “Schlage keinen Nagel in die Wand, ... du kehrst morgen zurück“ – gehen von Serbedzjia als Darsteller die stärksten Wirkungen aus. “Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten./ Das heißt doch Auswanderer. Aber wir/ Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß/ Wählend ein anderes Land .../ Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte./ Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns aufnahm”. Solche und ähnliche Sitze könnte Serbedzjia selbst geschrieben haben.

Da einige der Gedichte und Lieder in deutsch oder serbokroatisch gesprochen oder gesungen werden, ist im Programmheft eine englische Übersetzung der Texte abgedruckt.

Mit drei Szenen aus dem ‘Leben des Galilei’ als Beispiel für Gewalt, die sich gegen die Vernunft selber und auf die Vernichtung geistiger Werke richtet, und dem getanzten Lied vom ‘Moon of Alabama’ – “We now must say good-bye” – verabschiedet sich das Trio. Der Text der dritten Strophe (“Oh, show us the way to the next little dollar! ... For if we don’t find the next little dollar, I tell you we must die!”) klang wie ein verzweifelter Hilferuf in eigener Sache. Denn ob und wie die neue Theatertruppe überleben wird, weiß im Augenblick keiner der Beteiligten zu sagen.

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