Als ich vor einiger Zeit – als Neuankömmling in London – nach meinen ersten Theatereindrücken in dieser Stadt gefragt wurde, habe ich über Beobachtungen berichtet, die das Gerücht bestätigen, daß hier im Gegensatz zu deutschen Landen von einer Theaterkrise wirklich nicht die Rede sein kann. Die Feststellung, daß das in aller Welt wegen seines fortschrittlichen Systems so beneidete deutsche Theater im Argen liege, ist längst zum Allgemeinplatz geworden. Wenn es, auf der anderen Seite, um die englische Bühnenkunst keineswegs schlecht bestellt ist, dann wüßten wir natürlich gern, warum es ihr besser geht. Es lohnt sich also, das Klima zu studieren, in dem das hiesige Theater gedeiht, und weitere Beobachtungen zu sammeln, die die Frage beantworten helfen, was hier anders sei und warum.
Ich selber vermute, daß das Theater in England gesellschaftlich eine etwas andere Rolle spielt als in den Ländern deutscher Sprache. Das zeigt sich vor allem in der Einstellung des Publikums; es spiegelt sich in der Theaterkritik; und so darf man wohl davon ausgehen, daß auch die in Buchform veröffentlichte Theaterliteratur gewisse Unterschiede deutlich macht.
Ich habe die Titel aller Arbeiten zum Theater, die im Jahre 1968 in englischer und deutscher Sprache erschienen sind, zusammengetragen und verglichen. Das Ergebnis dieses Vergleichs entsprach den Beobachtungen, die man hier als Theaterzuschauer macht; überraschend war nur die Tatsache, daß es so eindeutig ausfiel.
Die Verfasser der deutschen, österreichischen und schweizer Beiträge konzentrieren sich vor allem auf die theatralischen Gattungen, Grundbegriffe und Stilarten, sowie auf bestimmte dramaturgische Modelle. Die Arbeiten zur Theatergeschichte tendieren fast ausnahmslos zur bloß historisierenden Betrachtung des Gewesenen, ohne erkennbaren Bezug zum Theater von heute. Dieser Bezug zur Gegenwart scheint dagegen den Verfassern der englischen Beiträge wichtiger zu sein als alles andere. Sie arbeiten pragmatischer, scheuen weitschweifige Ausflüge ins Land der reinen Wissenschaft und halten sich möglichst eng an das Vorgegebene. Im Unterschied zu den meisten deutschen Beitrrägen verstehen sich die englischen offenbar als eine Art kritische, auf die Praxis rückwirkende Theorie des Theaters.
Die Unterschiede zeigen sich bereits bei den Arbeiten zur Theatergeschichte. Durch die theater- und literaturwissenschaftlichen Institute der Universitäten und ein besonders ausgeprägtes Interesse für Lokalgeschichtliches wird die deutsche Theaterlandschaft fast systematisch abgegrast. Bei den theatergeschichtlichen Untersuchungen im englischen Bereich handelt es sich dagegen ganz offensichtlich um Zufallsprodukte.
Die 26 deutschsprachigen Arbeiten beziehen sich immerhin auf zwanzig verschiedene Städte und Bezirke in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Von Bayreuth über St. Gallen und Wolfenbüttel bis Zoppot an der Ostsee wird die lokale Theatergeschichte aufbereitet. Nur eine einzige Untersuchung weist über die Sprachgrenzen hinaus.
In Großbritannien dagegen beziehen sich nur zwei historische Arbeiten auf den eigenen Bereich, aber zehn andere auf ausländische Theaterbezirke: das antike Athen, das russische Theater, das Theater in Südostasien, die italienische Comedia dell’arte und das proletarische Theater in Indonesien. Daneben interessieren einige Sonderformen und typische Randerscheinungen wie Hippodrome und Hippodrama, Theaterzensur und die Entstehungsgeschichte der Drag Acts, der szenischen Darstellung von Frauen durch männliche Schauspieler, einer Spezialität, die in England besonders in den letzten Jahren regelrecht zu einer neuen theatralischen Gattung ausgebildet wurde.
Im Hinblick auf die allgemeinen Beiträge zum Theater entsteht also der Eindruck, daß die Deutschen zur historischen Nabelschau neigen, während die Briten vor allem an exotischen Bezirken interessiert zu sein scheinen. Bei den Arbeiten über die verschiedenen theatralischen Gattungen haben wir zunächst die Untersuchungen zur Theorie und Geschichte des Dramas.
Die deutschen Beiträge behandeln die dramatischen Formen an sich oder (um den Titel einer Münchener Dissertation zu zitieren) “Das Verhältnis der poetischen Gattungen zur Bühne“. Wir finden hier arbeiten über das Trauerspiel, über die ernste Komödie, über das Lustspiel, über Komik, Tragik, Humor und das Humorspiel als Dramenart, über das Lehrstück und über das Kriminalstück, sowie über absurdes und politisches Theater.
Die Titel der englischen Arbeiten aber signalisieren unter anderem: Theorie des modernen Theaters, das englische Drama in moderner Sicht, Perspektiven im Drama, Drama in unserer Gesellschaft.
In Deutschland haben wir eine eigene Universitätsdisziplin ausgebildet, deren wissenschaftlicher Gegenstand das Theater ist. Ein Drittel der gesamten deutschsprachigen Theaterliteratur sind Doktorarbeiten der theaterwissenschaftlichen Institute in Berlin, Wien, Köln und München, sowie anderer Fächer der philosophischen Fakultät. Die Titel vieler Dissertationen lassen leider vermuten, daß die Wissenschaft vom Theater kein Verhältnis zur Praxis hat. Sie arbeitet retrospektiv, mit dem Rücken zur eigenen Gegenwart, und hat daher keine Chance, ihrerseits auf das Theater einzuwirken.
Was die Beiträge über einzelne Dichter und deren Werke betrifft, so überwiegen in England bei weitem die Arbeiten über Shakespeare. In Deutschland wurden sage und schreibe 148 Untersuchungen über siebzig verschiedene Dramatiker veröffentlicht.
Mehrere englische Arbeiten befassen sich mit dem Amateurtheater oder sind als Handbücher für die zahlreichen Laienspielgruppen konzipiert, die eine wichtige Rolle spielen. Die Aufführungsziffern, sowie das Niveau der Stücktexte liegen im Durchschnitt über dem der deutschen Spielgemeinschaften, die noch immer vom Zupfgeigenhansel-Stil der Jugendbewegung beeinflußt sind. Da es in Großbritannien viel weniger professionelle Bühnen mit festem Ensemble gibt als im deutschsprachigen Bereich, haben hier die Amateurtheater noch eine Ersatzfunktion zu erfüllen. Einige dieser Gruppen gelten überdies – gemessen am Betrieb der kommerziellen Bühnen – als ausgesprochen avantgardistisch.
Besonders auffallend ist auch der Unterschied bei den Veröffentlichungen zur Bühnenpraxis. Sämtliche englischen Beiträge beziehen sich auf das Theater der Gegenwart, behandeln die Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Schauspieler, die Probleme der Realisierung dramatischer Texte, die Arbeit des Schauspielers an der Rolle und andere theaterpraktische Fragen. Typisch sind hier der Probenbericht “John Gielgud inzeniert ‘Hamlet’ mit Richard Burton” und Peter Brooks viel beachtetes Theaterbuch “Die leere Szene”. Für die deutschen Publikationen ist dagegen die große Zahl von Schauspieler- und Sängermonographien bezeichnend, einzelne Darstellungen über Künstlerpersönlichkeiten, die irgendwann einmal eine gewisse Bedeutung hatten.
Im englischen Theateralltag scheint der Schauspieler noch die zentrale Rolle zu spielen, die ihm zukommt: das englische Theater ist weitgehend ein Theater der Schauspieler und Regisseure. Aber das gilt natürlich nur für die lebenden, die agierenden Schauspieler, deren Kunstfertigkeit zählt, solange sie noch auf den Brettern stehen. Künstlerbiographien sind hier normalerweise nur dann von Interesse, wenn damit zugleich allgemeinere, kulturhistorisch oder zumindest theaterwissenschaftlich wirklich wichtige Zusammenhänge erhellt werden.
Die deutsch-österreichischen Arbeiten über Bühnenbild und Bühnenbau sind allesamt historische Untersuchungen, deren Bezug zur Gegenwart des modernen Theaters nur in einem einzigen Fall evident ist; während die Beiträge in englischer Sprache sich durchwegs auf die praktische Arbeit der professionellen Theater- und Amateurgruppen beziehen.
Was in dieser Gegenüberstellung der englischen und deutschsprachigen Theaterliteratur über die bloßen Fakten hinausgeht, sind Vermutungen und Spekulationen in Richtung auf allgemeinere Zusammenhänge, welche die festgestellten Unterschiede erklären helfen. Wir hatten, wie gesagt, erwartet, daß das Ergebnis dieses Vergleichs den Beobachtungen entsprechen würde, die man hier als Theaterzuschauer macht, – und waren dennoch überrascht, als wir merkten, wie sehr dies wirklich der Fall war.