die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1970
Text # 5
Theater/ Kulturpolitik
Sendeinfo 1970.11.05/BBC German Service-Kulturkaleidoskop

Die Theaterstadt London hat viele Gesichter. Neben den Respekt gebietenden Großunternehmen und den vielen kommerziellen Betrieben gibt es eine nicht mehr übersehbare Anzahl kleiner und kleinster Gruppen, von deren Existenz die Öffentlichkeit wenig weiß, obwohl sie insgesamt im englischen Theaterleben von heute eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt insbesondere für jene Gruppen, die nicht einfach irgendwelche Stücke einstudieren und einem Publikum nach altem Schema vorführen, sondern mehr oder weniger systematisch nach zeitgemäßeren Darstellungstechniken und neuen Formen der Kommunikation im Bereich des Theaters suchen.

Was man in London heute von der Arbeit der verschiedenen Experimentiertheater sehen kann, wirkt zunächst verwirrend heterogen. Wer zum Beispiel den verschiedenenartigen Vorstellungen im Rahmen des Royal Court Festivals der Avantgarde beigewohnt hat, der mußte allabendlich buchstäblich auf alles gefaßt sein. Denn was die Akteure da auf der Bühne oder inmitten der Zuschauer trieben, schien auf den ersten Blick nur negativ etwas gemeinsam zu haben: Es war nicht das, was man normalerweise unter Theater versteht. Einige Gruppen legen denn auch ausdrücklich Wert darauf, daß ihre Veranstaltungen – die sie Vorführung, Show, Entertainment, Ausstellung, Aktion, Ereignis oder Vorgang nennen – nicht als Theater bezeichnet werden, denn alle glauben zu wissen: Opas Theater ist tot und alle Wiederbelebungsversuche sind zwecklos.

Wer die verschiedenen Experimente der Gruppen genauer untersucht, stellt fest, daß sie allesamt von den Ideen der Avantgardisten von gestern und vorgestern leben. Das spricht keineswegs gegen die Gruppen, die die Theorien und Vorschläge der alten Revolutionäre auf ihre praktische Verwendbarkeit hin untersuchen, als vielmehr für die weitreichende Bedeutung jener Ideen. Die gesamte Avantgarde von heute ist beispielsweise in einem kaum vorstellbaren Maße Antonin Artaud und dem Komplex ‘Theater der Grausamkeit’ verpflichtet. Nahezu alle Erscheinungsformen des experimentellen Theaters sind von seinen Vorstellungen geprägt; die Ideen vom Theater der Provokation, des Schocks, der Revolte, vom Theater als ‘Action’, als Ritual, als ‘aktive Metaphysik’ stammen sämtlich aus dieser Quelle. Darüber hinaus aber auch die exaltierte Körperlichkeit, die heute für viele Gruppen so bezeichnend ist, die Reduzierung der Sprache auf reine Wort- und Stimmenmusik, das Staccato der Bewegungen, die übergroße Gestik – und das fragwürdige Bekenntnis, die schönste Kunst sei die, welche uns dem Chaos nahebringe.

Den Regisseuren Peter Brook und Charles Marowitz ist es wohl zu verdanken, daß Artaud am Anfang der sechziger Jahre für das englische Theater entdeckt wurde. Brook und Marowitz begaben sich mit einer kleinen Gruppe von Schauspielern der Royal Shakespeare Company monatelang in Klausur, um die Ideen Artauds auf ihre Praktikabilität hin zu testen. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden 1963 im Londoner LAMDA-Theater der Öffentlichkeit vorgestellt. Brooks Inszenierung des ‘Marat-de Sade’-Stückes von Peter Weiß darf wohl als der künstlerische Höhepunkt dieser Phase gelten. Marowitz hat in den folgenden Jahren mit seinen Experimenten im Open Space Theatre die Entwicklung weiterzuführen versucht.

In jüngster Zeit hat vor allem die Arbeit des polnischen Theatermannes Jerzy Grotowski besonders stark auf die jungen englischen Gruppen abgefärbt. Grotowskis ‘armes Theater’ hat die wichtigsten Anregungen Artauds übernommen, thematisiert und zu einer brauchbaren Arbeitsmethode entwickelt. Seinen Vorstellungen entsprechen die konzentrierte Zusammenarbeit in Werkgruppen, das intensive physisch-psychische Training der Schauspieler, die strikte Reduktion der Hilfsmittel auf das unbedingt Notwendige, die totale Kontrolle der szenischen Vorgänge und die zahlenmäßige Begrenzung des Publikums.

Bei den Veranstaltungen des Royal Court Festivals fiel auf, wie sehr die Pop-Elemente noch immer von den Vorbildern der Dada-Bewegung und den Formen des absurden Theaters beeinflußt sind. Sowohl thematisch (Geworfenheit, Unvermögen zur Kommunikation, Unfähigkeit zur Tat), als auch formal (Slapstick-Komik, die Technik des Aneinandervorbeiredens) trifft man da Altvertrautes. Ebenso interessant war es, gewisse Einflüsse des Brechtschen Theaters festzustellen, die in diesem Fall vermutlich auf Umwegen über das Living Theater und Grotowski nach England gelangt sind.

In diesem Zusammenhang darf nicht verschwiegen werden, daß vieles von dem, was die Jungen heute bieten, ausgesprochen infantil wirkt, vieles auch, weil nur gut gemeint, schlichtweg dilettantisch, manches bloß modisch, anderes langweilig. Man verläßt sich allzu sehr auf die Unsicherheit des Publikums, spekuliert auf den Erfolg einer gewissen Überrumpelungstaktik etwa nach dem Motto: Ihr seid hierher gekommen, also müßt ihr euch gefallen lassen, was uns beliebt.

Eine der wichtigsten Entdeckungen bei meinen Streifzügen durch die Vorfelder der Londoner Theaterlandschaft war die Beobachtung, daß bei der großen Mehrzahl der Versuche das Vergnügen der Zuschauer an den Ereignissen auf der Bühne im Vordergrund stand. Man kam also, zumindest in dieser Hinsicht, auf seine Kosten.

Daß die verschiedenen Experimente der jungen Gruppen produktive Ansätze für einen neuen theatralischen Stil enthalten, zeigt sich allein schon am Beispiel der Freehold Company, deren eindrucksvolle Aufführungen zu gewissen Hoffnungen berechtigen.

Inwiefern sich die Arbeit der Experimentiertheater auch auf die der großen Bühnen auswirken wird, bleibt abzuwarten. Doch auf eines scheint man sich hierzulande getrost verlassen zu können: mit dem Spaß am Theater nimmt man es wirklich ernst.

 

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