die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 43
Autor Intermedia-Festival ICES
Multimedia
Ensemble/Spielort The Place/London
Sendeinfo 1972.08.25/SWF Kultur aktuell

“The Place ist der Ort, wo die Barrieren fallen, Darsteller und Publikum sich begegnen, wo man Abenteuer und Ursprung der Künste wiederzuentdecken und neu zu beleben sucht”. Die stolze Selbstanzeige ist mehr als bloße Definition eines Programms: The Place als Clubtheater, Residenz des London Contemporary Dance Theatre, Ballettschule, Restaurant, Studio für Körperkontrolle und – last but not least – Ort der Begegnung hat das Versprechen längst eingelöst: Studioaufführungen der Royal Shakespeare Company, Gastspiele kleiner Experimentiertheater, musikalische Veranstaltungen und Intermedia-Shows, vor allem aber die regelmäßige Arbeit des ersten englischen Ensembles für modernen Tanz haben The Place in London zu einem Zentrum der künstlerischen Avantgarde gemacht.

Im Rahmen des ‘Internationalen Karnevals des experimentellen Klangs’, ICES, gastieren in diesen Tagen vier verschiedene Ballettruppen und bieten eine Uraufführungsserie von Stücken, bei denen neue Klangeffekte und instrumentalmusikalische Experimente eine wichtige Rolle spielen.

In Flora Cushmans Ballett ‘Gamma Garden’, dargeboten vom London Contemporary Dance Theatre, begleiten zwei Sänger, Bariton und Alt, mit harmonisch-melodiösen Tonfolgen ohne Text die Bewegungen der Tänzer; die Choreographie spielt mit den Möglichkeiten von der Decke hängender, schwingender Seile. – In Noemi Lapzesons Ballett ‘Conundrum’ liefern Piano und Klarinette die akustische Grundlage; die mit verschlungenen überdimensionalen Nagelgebilden spielenden Tänzer sprechen einzelne Sätze, nennen Namen und machen sich auf andere Weise auch hörbar. – In ‘Relay’ setzen Piano und Cello mit Liedfragmenten, freien Tonfolgen, Zupf-, Kratz- und Klopfgeräuschen musikalisch-akustische Akzente. – Schlagertexte, von einem tanzenden Mädchen gesungen, und – an einer Stelle – privates Geflüster der Tänzer, das den stilisierten Bewegungsablauf unvermittelt verfremdet, sind die einzigen Laute in dem choreographisch faszinierend komponierten, sonst stummen Ballett ‘Catabile’ von Noemi Lapzeson. – Jon Keliehors phantasievoll orchestrierten und wahrhaft meisterlich vorgetragenen Etüden an einer Vielzahl von Schlaginstrumenten stahl in ‘Tearful History’ von Ross McKim den Tänzern verdientermaßen die Show. – Eine Suzuki mit laufendem Motor auf der Bühne, elektronisch verzerrte Pfeiftöne, Licht- und Schatteneffekte hinter Leinwänden, Harmonie- und Orgelmusik waren bezeichnend für das Ballettstück ‘Outside-In’.

Der Kanadier James Cunningham mit seiner Acme Dance Company läßt die Vorstellung mit einfachen Yoga-Entspannungsübungen beginnen und enden, unter Beteiligung zahlreicher Freiwilliger aus dem Publikum, die mehr als bloß sehen wollten, was andere für sie taten. Die Gruppe folgt dem Gleichton der gesprochenen Anweisungen, die wie eine Klangkulisse wirken, dem Rauschen von Meereswellen und tobt übermütig ausgelassen zu alter und neuer Popmusik über die Bühne.

Bei allen Vorstellungen der drei sonst sehr verschiedenen Ballettgruppen, die im Rahmen von ICES in The Place auftraten, interessierten (neben den teilweise reizvollen akustischen Effekten als solchen) am meisten gerade jene durchwegs handlungslosen Stücke, in denen beide Elemente, das Musikalisch-Akustische und das Gestisch-Optische, nicht fest miteinander verkoppelt waren, sondern sich ihren eigenen Spielraum bewahrten und in nur losem Bezug zueinander, sich frei vom Zwang rhythmischer Synchronisierung entwickeln konnten.

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