die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 303
Autor Franz Xaver Kroetz
Theater
Titel Tom Fool (Mensch Meier)
Ensemble/Spielort Half Moon Theatre/London
Inszenierung/Regie Nancy Diuguid
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1980.07.01/DLF

Die britische Premiere des Schauspiels ‘Mensch Meier’ von Franz Xaver Kroetz, vorgestellt im Ostlondoner Half Moon Theatre unter dem Titel ‘Tom Fool’, wurde zu einem außergewöhnlichen Erfolg, der nicht nur dem Stück, sondern auch der vorzüglichen Übersetzung von Estella Schmid und Maurice Colbourne, der schnörkellosen Inszenierung von Nancy Diuguid und der intensiven, bis in die feinsten Nuancen des wortlosen Ausdrucks glaubhaften Darstellung zugeschrieben werden muß.

Das Programmheft liefert in ungewöhnlicher Ausführlichkeit eine Dokumentation über den Lebensweg und die Arbeit des deutschen Autors, verweist auf Marieluise Fleißer und die Tradition des deutschen Volksstückes, von welcher sowohl Brecht als auch Kroetz “und andere Neorealisten seiner Generation – Faßbinder, Wolfgang Bauer, Martin Sperr” beeinflußt worden seien, zitiert Kommentare des Autors Kroetz zur eigenen Arbeit und bringt unter der Überschrift ‘Die Schmidt-Regierung’ einen kurzen Bericht über die politische und wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik, der die Unkenrufe der Panikmacher im Lager der deutschen Rechten an Bedrohlichkeit noch übertrifft und den Eindruck erweckt, als stehe das Land mit der stabilen Währung, der beispielhaft niedrigen Inflationsrate, der günstigen Handelsbilanz und imponierenden Wachstumsrate in der Tat am Rande des Abgrunds: “Allein in der Stahlindustrie der EC-Länder“, heißt es, “sollen bis 1983 150.000 Arbeitsplätze eingespart werden, davon 55.000 in Westdeutschland ... Die westdeutsche Krise kann nicht länger verschleiert werden. Es bleibt nur die Wahl zwischen umfangreichen Entlassungen und Senkung des Lebensstandards oder totalem Zusammenbruch der Industrie“. Der Katastrophenbericht über die Verhältnisse im reichen Nachbarland ist weniger als Trost zu verstehen über die eigene Misere durch Verweis auf die Tatsache, daß auch andere ihre Sorgen haben, vielmehr als Versuch, die Krise als international, als weltweite Krankheit zum Tode des kapitalistischen Systems zu begreifen.

“In den unteren Tiefen der angelernten Arbeiterschaft fand der deutsche Autor Franz Xaver Kroetz Elend, Trostlosigkeit und schmerzhaftes Schweigen des modernen Industriesklaven“, schreibt der Kritiker der konservativen Zeitung ‘Daily Telegraph’.

“Es ist mir nicht möglich”, schreibt Michael Billington im ‘Guardian’, “diesem Stück Respekt und Bewunderung zu versagen. Im Laufe von drei Stunden liefert es ein minutiöses, detailreiches Bild vom Leben eines angelernten deutschen Arbeiters der Autoindustrie, seiner ans Haus gebundenen Ehefrau und ihres rebellischen halbwüchsigen Sohnes. Und obwohl meine Aufmerksamkeit hin und wieder abschweifte, hatte ich am Ende das Gefühl, mit den Personen des Stückes die Krise einer Familie durchlebt und ein dramatisches Dokument von seltener Ehrlichkeit gesehen zu haben. Was Kroetz auszeichnet, ist seine Genauigkeit ... Er ist stets am stärksten, wenn er Ereignisse vorführt, statt darüber zu berichten ... Wie in einem Film von Faßbinder gibt das Stück eine herrliche Demonstration dessen, was sich hinter den eindrucksvollen statistischen Werten des westdeutschen Industrialismus verbirgt”.

“Die lähmende Langsamkeit der Inszenierung“, heißt es in einem Bericht der ‘Times’, “wird dem Text aufs Beste gerecht; die lang anhaltenden Blicke wortloser Frustration geben uns zu verstehen, daß die dünne Schicht Optimismus, die über dem ganzen liegt, fadenscheinig ist”.

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