Sucht man in der amorph erscheinenden Masse der über sechtausend szenischen Veranstaltungen im Rahmen des Edinburgh Festival Fringe nach thematischen Komplexen, die uns die Vielzahl der Angebote etwas leichter überschaubar machen, entdeckt man, daß die meisten Vorstellungen sich drei Kategorien zuordnen lassen, den Komplexen Literaturtheater, politisches Theater und leichte Unterhaltung. In der Kategorie Literaturtheater finden sich Inszenierungen klassischer Dramen (aus dem deutschen Sprachbereich zum Beispiel verschiedene Versionen von Büchners ‘Leonce und Lena’ und Stücke der modernen Klassiker Wedekind, Brecht und Dürrenmatt), dramatisierte Romane oder Paraphrasen zur Literatur und Literaturgeschichte sowie verschiedene Studien über Shakespeare, Thomas Chatterton, Oscar Wilde, Tschechow, Garcia Lorca und Kafka.
Zahlreiche Gruppen sehen ihre Aufgabe in der szenischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitisch wichtigen Fragen. Da finden wir Stücke über die Situation in Nordirland, über Polizeiterror, über die Probleme der Fabrikarbeiter, über die Rolle der Frau und über die wirtschaftliche Misere Großbritanniens sowie Werke, die den Abscheu vor den Schrecken des Krieges spiegeln oder die Sorge um den Verlust demokratischer Rechte im Zuge staatlicher Maßnahmen zur sogenannten Erhaltung von ‘Law and Order’. Eine Reihe von Stücken befaßt sich mit der Not politischer Gefangener und mit der Situation in den Gefängnissen. ...
Clownerie auf literarisch anspruchsvoller Ebene brachte das Lustspiel ‘Ya’acobi and Leidental’ von Hanoch Levine in der Inszenierung des Cameri Theatre aus Tel Aviv. ‘Ya’acobi and Leidental’ erzählt eine Geschichte (was heute leider immer seltener wird), die Geschichte zweier Freunde, die sich in dieselbe Frau verlieben. Ya’acobi heiratet sie, Leidental partizipiert am Glück der anderen, weil er als willfähriger Diener in Haus und Hof sich nützlich machen darf. Ruth, die Frau, spielt ihre weiblichen Trümpfe gegen beide Männer aus, überschätzt die eigene Macht und bleibt am Ende auf der Strecke. Das verblüffend simpel erscheinende, doch mit viel Raffinesse konstruierte Stück hat die Poesie der frühen Filme von Chaplin oder Laurence & Hardy. Jüdische Lebensweisheit, Einsicht in die Fatalität des Gegebenen, die Vergeblichkeit aller Versuche, sich selbst zu entfliehen, und dann doch dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, machen das Werk zu einer kleinen theatralischen Kostbarkeit.
Was uns Tadeusz Kantor und seine Krakauer Truppe ‘Cricot2’ mit ihrer neuesten Inszenierung unter dem Titel ‘Wielopole Wielopole’ bieten, kann mit wenigen Worten nicht beschrieben werden. Wielopole, wörtlich “viele Felder”, ist ein kleiner Ort in der Nähe von Krakau, in dem der heute 65jährige Kantor geboren wurde. Das in Florenz in monatelanger Arbeit entwickelte Szenarium ist ein kunstvolles Mosaik aus gespenstischen Bildern, die in bestürzender Eindringlichkeit vor uns erscheinen.
Erinnerung beschwört die Gestalten der Kindheit, einen Raum mit einem Fenster und einer Tür, einem Schrank, einem Bett, einem Tisch. Einen Raum mit Figuren, die für Augenblicke zum Leben erwachen, wie Marionetten mit verbogenen Körpern und qualvollem Grinsen über die Bühne torkeln, sich zu grotesken Gruppen formieren, schwatzend und gestikulierend, sprachlos beredt, in scheinbar sinnloser Wiederholung umeinander wirbeln und dann wieder leblos in sich zusammensinken. Ein danse macabre, Erinnerung an das Haus der Kindheit, an die Eltern, an Onkel und Tanten, an Priester und Soldaten; leichenhaft graue Gestalten auf verblaßten Fotografien, die, beschworen von Kirchenchorälen, Soldatenliedern oder dem Spiel des Leierkastenmannes, plötzlich in Bewegung geraten; Geister einer Vergangenheit, die sich in schauerlichem Zeremoniell wiederholt, ein Ritual des Sterbens.
Kantors szenisches Moratorium ist das Werk eines Mannes, der die Rolle des Künstlers ernst nimmt als Kreator, der durch die Kraft seiner Imagination Chaos in Form verwandelt. Die Unerbittlichkeit seines Anspruchs auf Formulierung der “exzeptionellen Essenz” einer erlebten Wahrheit und die Konsequenz, mit der er seine Visionen auf der Bühne Gestalt werden läßt, machen ihn zu einer Figur, die dem heute gängigen zeitgenössischen Theater um Lichtjahre voraus zu sein scheint.