die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1974
Text # 78
Autor Friedrich Schiller
Theater
Titel Die Räuber
Ensemble/Spielort Roundhouse/London
Inszenierung/Regie Hovhannes Pilikian
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1974.11.13/DLF Köln/SWF Kultur aktuell 1974/11.14/ORF Wien/BBC German Service

Die deutsche Kolonie hatte sich im Londoner Roundhouse eingefunden, um der ersten Aufführung der ‘Räuber’ in englischer Sprache beizuwohnen. Ein denkwürdiger Augenblick. Das Goethe-Institut hatte eine neue Übersetzung des Stückes in Auftrag gegeben und einen erheblichen Anteil der Produktionskosten übernommen. ‘The Highwaymen’ by Friedrich Schiller sollten zum bühnenkünstlerischen Höhepunkt der vom Londoner Goethe-Institut veranstalteten Deutschen Kulturwochen werden. Sie wurden stattdessen zur größten bühnenkünstlerischen Pleite.

“Das Stück“, so hieß es in einer Vorankündigung, “wurde um 1780 geschrieben und behandelt den uralten Generationenkonflikt, die Rebellion der Jungen gegen das Establishment, hier die patriarchalische Gesellschaft. Zum ersten Mal wird ein Darsteller die beiden Brüder Franz und Karl als Doppelrolle spielen“. Um gegen die Absichten des Dichters nicht zu verstoßen, habe man den Text mit äußerster Vorsicht behandelt. Die vorliegende englische Fassung sei darum keine ‘Adaptation’ im eigentlichen Sinne, sondern “reiner, unverfälschter Schiller“.

Die Regie war dem jungen Regisseur Hovhannes Pilikian anvertraut wurden, der vor allem durch seine Inszenierungen antiker Dramen, seine sexualogischen Interpretationsversuche und seine Schwierigkeiten im Umgang mit Schauspielern von sich reden machte. Seine Besetzung der Roundhouse-‘Räuber’ enthält keine Stars, mit denen der eigenwillige Jungregisseur sich hätte anlegen können. Dafür gab es während der Proben, wie man erfuhr, soviel Ratlosigkeit, daß das Endprodukt mehr Ähnlichkeit hat mit einer Klassikeraufführung von Sekundanern, die noch nicht wissen, was sie tun, als mit professionellem Theater, welches die großzügige Förderung, die es in diesem Fall erfuhr, verdient hätte.

Was da als “reiner, unverfälschter Schiller” ausgegeben wird, ist zur unfreiwilligen Parodie auf sich selbst geraten und auf das Banausische eines Kulturbetriebs, der selbst wo er das Gute will, nur Miserables schafft.

Auftritt Graf von Moor mit seinem Sohn Franz, der sich durch einwärts gedrehten Hinkefuß, verbogenen Arm, schiefen Mund und krächzende Stimme auf originelle Weise als Bösewicht zu erkennen gibt. Während Franz vom lasterhaften Leben des guten Bruders Karl berichtet, zeigt der Alte mit Winseln und Zähneklappern, wie einem Vater zumute ist, wenn ihn sein Lieblingssohn enttäuscht. Nach dreimaliger Wiederholung der beschwörenden Abschiedsworte “Ich sage dir, bring meinen Sohn nicht zur Verzweiflung!“ humpelt Franz, der uns verrät, daß er noch böser sei als er aussehe, zur Hinterbühne, um im nächsten Augenblick als Bruder Karl aufrechten Ganges zurückzukehren.

Große Aufregung über den Inhalt eines höchst unglaubwürdigen Briefes, und Austritt aus der Ordnung der guten Gesellschaft; die outcasts gehen in den underground. – Ein gewisser Spiegelberg tut sich wichtig. Beim Ausdruck “harte Zeiten“ wird die Faust geballt, der Unterarm zur obszönen Geste angewinkelt. – Die Räuber sind eine Rasselbande alberner Jungen, die Männlichkeit üben; Amalie – eine hysterische Gans, der Franz die Faust zwischen die Schenkel schieben darf, wofür sie sich später, vage lächelnd, mit gezieltem Schlag auf einen empfindlichen männlichen Körperteil rächt. – Überall Fäuste, die geballt und geschwungen, auf Bretterboden und Brüste geschlagen werden.

Hermanns fingierter Bericht über den Tod des guten Karl artet zur schlimmsten Klamotte aus. Der Schuß, der Rollers Auftritt ankündigt, geht erst los, nachdem von ihm die Rede war. Der dem Galgen entsprungene, von Häschern und Hunden gehetzte Roller spricht von Todesangst wie andere vom Wetter. Da ist keine Spur von Glaubhaftigkeit im Spiel, nur Langeweile über leeres Gerede; hohle Bühnenposen, wohin man blickt, verstaubtes altes Theater.

Das Publikum reagiert gegen Ende fast nur noch auf die unfreiwillige Komik an der Sache; immer hörbarer das unterdrückte Gelächter im Saal; ironischer Pointenapplaus. – Dem Darsteller der Doppelrolle verschwimmen die Charaktere, bis sie sich kaum noch unterscheiden lassen. Die schon tot geglaubte Amalie erscheint plötzlich als zerlumpte Hurengestalt auf der Szene, reißt sich das Mieder vom Leib, und erst nach langem Gerangel und eifrigem Säbelgerassel der hilflos verwirrten Räuber erhält sie den Gnadenstoß. Karls berühmten letzten Worte halfen an diesem mißratenen Abend nicht nur einem armen Mann: weil sie die letzten waren.

“Die primitive Gewalttätigkeit in Schillers Drama”, ließ der Regisseur im Programmheft verlauten, “legte den Keim für den deutschen Expressionismus, der sich schließlich in Ionescos Theater des Absurden wiederfand. ... Schillers Dramen lesen sich wie ein Readers’ Digest von Shakespeare”. – Was daran irgendwo stimmen mag, wird mit Halb- oder Mißverstandenem wahllos vermischt, bis daraus purer Unsinn geworden ist. Konfusion präsentiert sich als der Weisheit letzter Schluß. So nimmt das Ergebnis nicht wunder.

 

Nach Oben