die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1993
Text # 280
Autor Steve Shill
Theater
Titel Trilogy of Interiors (Face Down/A Fine Film of Ashes)
Ensemble/Spielort Institute of Contemporary Art (ICA)/London
Inszenierung/Regie Steve Shill
Sendeinfo 1993.05.27/BR 1993.05.28/SWF Kultur/WDR/DS Kultur/Nachdruck: Darmstädter Echo

Die Avantgarde des Theaters von heute ist das etablierte Theater von morgen und damit Prüfstein für die Kreativität und Vitalität einer Theaterlandschaft. Blickt man in England zurück auf die fruchtbaren sechziger und siebziger Jahre, dann verkehren sie sich zu paradiesischen Zuständen, zum Garten Eden, der in den darauf folgenden Zeiten der großen Dürre, die kein Ende nehmen zu wollen scheint, zur Steppe geworden ist.

In dem Krisenbericht einer unabhängigen Untersuchungskommission, die die Arbeitsbedingungen der britischen Theater prüfen sollte, hieß es schon 1987: ”Das Saatbeet der theatralischen Entwicklung in England ist verwahrlost”. Das war vor sechs Jahren, vor dem Beginn der jüngsten Rezession, die den Prozeß der Verwüstung weiter trieb.

Das Londoner Institut für zeitgenössische Kunst (ICA) hat sich über die Jahre verdient gemacht, weil es den kleinen freien Theatertruppen, die im Vorfeld der künstlerischen Entwicklung nach neuen Möglichkeiten des Ausdrucks suchen, immer wieder Gelegenheit bot, ihre Arbeiten vorzuzeigen. Steve Shill gehört zu den interessantesten Erscheinungen des alternativen Theaters in England, die die durch politische und wirtschaftliche Umstände hervorgerufene Krise bislang überlebt haben. Drei seiner neueren Inszenierungen wurden in diesen Tagen als sogenannte ‘Steve-Shill-Retrospektive’ unter dem Obertitel ‘A Trilogy of Interiors’ im Institut für zeitgenössische Kunst vorgestellt.

Wer nichts wagt, wird nichts gewinnen. Wer ungesicherte Wege geht, riskiert zu scheitern. In einem der drei Projekte hat Shill den Versuch gemacht, das Stück gemeinsam mit seinen Darstellern zu entwickeln. Das Ergebnis wirkt uneinheitlich, verwirrend und mißverständlich. Um so klarer ist der Erfolg der beiden anderen Stücke.

‘Face Down’ (Mit dem Gesicht nach unten) entstand als szenische Meditation über ein Gemälde von Edward Hopper. Im Halbdunkel eines Schlafzimmers liegt ein unbekleideter Mann im Bett, das Gesicht in den Kissen. Neben ihm und uns zugewandt sitzt eine weibliche Gestalt. Die Stimme einer älteren Frau beginnt, ihrer Tochter über die Umstände ihrer Hochzeitsnacht im Kriegsjahr 1943 zu berichten, ein langer Monolog mit langen Schweigepausen, wobei uns allmählich aufgeht, daß die Schlafzimmerszene mit den sanften Geräuschen der Meeresbrandung, dem zwischen Mond und Sonne, Zikadengezirp und Möwengeschrei wechselnden Licht, das durch die Gardine einfällt, und dem schweigsamen Paar, das durch die Nacht in den Tag und wieder in die Nacht hinein lebt, liebt, spielt und tanzt, lässig und gelassen die Zeit sich vertreibt, zu der Geschichte einer Hochzeitsnacht vor vierzig Jahren gehört, welche die Stimme der älteren Frau ihrer Tochter erzählt. Da ihr Mann am nächsten Morgen zu seiner Einheit zurück mußte, kurz darauf an die Front versetzt wurde und dort fiel, ist die in jener Nacht gezeugte Tochter alles, was ihr von damals blieb – außer der Erinnerung an eine selbstvergessen durchlebte Sommernacht.

Eine ganz harmlose, einfache Szene, die in der Rückschau fast tragische Züge gewinnt und uns mit zarten, durch und durch kalkulierten Mitteln und wenigen Worten optisch, akustisch und atmosphärisch lebendig wird.

‘A Fine Film of Ashes’ arbeitet mit sehr ähnlichen atmosphärischen Mitteln und beinahe identischem Bühnenbild. Durch das geöffnete Fenster mit der sich bauschenden weißen Gardine dringt das leise Rauschen von fernem Autoverkehr. Dann der Gesang einer Frau. Nach einer kleinen Ewigkeit – der verlassene Raum scheint im Wechsel des Lichts vom Tag zur Nacht und wieder in den Tag sehr langsam ein-und auszuatmen – öffnet sich leise die Tür. Ein Mann tritt herein mit einem kleinen Karton, in dem sich die Asche seines Vaters befindet, von dem die Familie am Vormittag Abschied genommen hat.

Aus den Selbstgesprächen, den Scheindialogen mit der Asche des Vaters und dem sonderbaren Verhalten des Sohnes entsteht allmählich das Psychogramm einer gestörten Persönlichkeit, die nach dem Tod des auf ihn total angewiesenen Vaters nun ganz aus den Fugen zu gehen scheint. Dem Sohn ist es, als wenn der verbrannte Leichnam des gehaßten Vaters sich als feiner Aschenfilm auf alles herabgesenkt hätte, was ihn umgibt, und ihn daran ersticken ließe.

Im Unterschied zur literarischen Tradition des Theaters komponiert Steve Shill aus Licht, Klängen, Musik und Bewegung mit viel Humor zarte szenische Gebilde, die an Träume erinnern, mit langen stillen Passagen, in denen selbst verlassene Räume, Möbel, Wände, halb geöffnete Türen und lichtdurchflutete Fenster mit ihren vom Wind bewegten Gardinen eine eigene poetische Sprache sprechen.

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