die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 44
Autor Michael Almaz & Howard Barker
Theater
Titel Monsieur Artaud & Alpha Alpha
Ensemble/Spielort Bush Theatre & Open Space Theatre/London
Inszenierung/Regie David Mouchtar-Samorai/Peter Watson
Neuinszenierung
Sendeinfo 1972.09.22/ SDR 1972.09.22/ORF Wien 1972.09.23/Nachdruck: Darmstädter Echo/Feuilleton

Das Bush Theatre, gelegen im wilderen Westen der Stadt, ist eines der jüngsten der so genannten Pub-Theater, die in Hinterräumen und Oberstübchen von Bierkneipen ein frisch-fröhliches, wenngleich nicht sorgenfreies Leben führen. Organisation und künstlerische Linie, die Auswahl der Stücke sowie vor allem Talent und Können der Regisseure und Schauspieler entscheiden hier wie anderswo über den Erfolg beim Publikum: bleiben die Zuschauer aus, kann das Theater einpacken. Für London gilt freilich (so überraschend das klingen mag), daß in den letzten Jahren Dutzende solcher kleinen Schauspieltheater gegründet wurden, jedoch nur wenige Bühnen den Betrieb wieder einstellen mußten. Das Wort von der weltweiten Theaterkrise hat also hier zumindest eine etwas andere Bedeutung.

Nach der Londoner Premiere des ersten Agit-Prop-Stückes von John Arden (‘The Ballygombeen Bequest’) präsentiert das Bush-Theater nun ‘Monsieur Artaud’ von dem israelischen Autor Michael Almaz, eine szenische Dokumentation über Leben und Werk des Antonin Artaud, dem enfant terrible des französischen Theaters der Zwanziger- und Dreißigerjahre, genialischen Schauspieler und Regisseur, Theoretiker und Prophet des ‘Theaters der Grausamkeit’. ‘Monsieur Artaud’ wurde bei den Festspielen dieses Jahres in Edinburgh aus der Taufe gehoben. Es ist kein Theaterstück mit szenischer Handlung, eher ein Referat über den Theatermann Artaud mit Zitaten aus seinen Schriften und Briefen, erfundenen Dialogen mit Intendanten und Regisseuren und Auszüge aus Proben zu Inszenierungen, an denen Artaud als Schauspieler oder Regisseur nachweislich beteiligt war. Der israelische Schauspieler David Mouchtar-Samorai zeigt Artaud auf verschiedenen Stationen seines Leidensweges. Er wird vorgestellt und durch den Abend geleitet von einer Schauspielerin, die verbindende Texte spricht, informiert, erläutert und von Zeit zu Zeit als Dialog- oder Probenpartner des Meisters einspringt. Die verschiedenen Texte, Zitatsplitter und Kommentare fügen sich zum erschütternden Lebensbild eines genialen Phantasten, der in seine Zeit nicht paßte und darum an ihr zugrunde ging.

Das Open Space Theatre in Londons Tottenham Court Road unter der Leitung von Charles Marowitz hat einen festen Stellenwert im Bewußtsein des Publikums: die einen meiden es wegen seiner Unbequemlichkeit – und denken dabei nicht nur an die spartanischen Sitzbänke; die anderen bewundern die Sachlichkeit und Intensität der Arbeit, sowie Wagemut, Intelligenz und Ausdauer des für Spielplan und Arbeitsstil verantwortlichen künstlerischen Leiters, dem es nach jahrelangen Auseinandersetzungen nun endlich gelungen ist, die Mittel aufzutreiben für ein kleines Ensemble fest engagierter Schauspieler mit regulärem Gehalt. Die ersten vier Inszenierungen zeigen, was diese Veränderung in der Tat bedeutet: sie wirken geschlossener, einheitlicher und sorgfältiger durchgearbeitet als frühere Arbeiten, die zwar stets durch eine originelle und ideenreiche Konzeption beeindruckten, deren schauspieltechnische Realisierung jedoch zuweilen manches zu wünschen übrig ließ.

Die jüngste Inszenierung des Ensembles, die Uraufführung der Satire ‘Alpha Alpha’ von Howard Barker unter der Regie von Peter Watson, brachte soeben einen neuen Höhepunkt der erfolgreichen Saison. In der Manier von Strip- Cartoons erzählt das Stück die Lebensgeschichte eines Verbrechers-Zwillingspaares aus dem Londoner Ostend, deren reale Vorbilder hier noch vor kurzem Polizei und Sensationspresse in Atem hielten. Man führt uns vor, wie im trauten kleinbürgerlichen Heim, liebevoll umsorgt von ihrem gutherzigen Mütterchen, zwei Ungeheuer aufwachsen. Im zarten Alter von zwölf Jahren zeigt sich bereits (bei der Ermordung eines Polizisten), daß die Knaben zu Höherem berufen sind. Die Presse wittert den Braten und streut den Ruhm der frühreifen Gangster in alle Winde. Publicity bläht sie zu negativen Helden auf, die sich selbst durchaus nicht schlechter sehen als andere Leute, die hart arbeiten, wenn sie es zu etwas bringen wollen; denn nur die besten setzen sich durch. Raub, Entführung und weitere Morde bringen die Brüder schließlich ins Kitchen. Ein ehrbarer Lord nutzt die Gelegenheit zur philanthropischen Geste, in dem er hinabsteigt in die sozialen Niederungen, sich für die verkorksten Brüder ins Zeug legt und einen Gnadenerlaß erwirkt, der sie ihrer innig geliebten Mutter zurückgibt. Das System, dem wir den Nährboden solcher Verbrecher aus proletarischem Milieu verdanken, produziert auch ihr Gegenbild, den respektablen Vertreter der Oberklasse, der aus der Verworfenheit jener anderen für sich selbst Kapital schlägt. Hinter der menschenfreundlichen Maske des Lords verbergen sich schnöde Motive. Als die Öffentlichkeit das Interesse an dem publizistisch ausgeschlachteten Fall zu verlieren droht, treibt der werte Lord die Brüder zum politischen Mord, der die Kriminellen zu treuen Dienern der britischen Krone weißwaschen soll. Nach ordnungsgemäßer Erfüllung des Auftrags töten die Söhne noch die eigene Mutter, die bis dahin alle Schandtaten ihrer Brut unter dem alles verzeihenden Mantel mütterlicher Liebe verborgen hatte. Der Lord aber sucht das Weite und rettet sein Gesicht.

Howard Barkers ‘Alpha Alpha’ ist eine bösartige Farce vor realem Hintergrund, eine Moritat, die ebenso unwahrscheinlich phantastisch wirkt wie sie Wahrheit offenbart, nämlich die einer Gesellschaft, deren heuchlerisch doppelzüngige Moral die Unmoral ist.

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